Gekommen, um zu bleiben - Flucht aus dem Südsudan

Reise: April-Mai 2018
Funktionen: Reporterin, Autorin, VJ
Finanzierung: Journalistenpreis Humanitäre Hilfe
Veröffentlichung: Multimedia Scrollytelling-Website (offline)

Im Südsudan ist jeder Dritte vor dem Bürgerkrieg auf der Flucht. Es ist die größte Fluchtbewegung in Afrika. Schutz finden die Menschen vor allem in den Nachbarländern Kenia und Uganda. In dem Crossmedia-Projekt "Gekommen, um zu bleiben" erzählen vier Südsudanesen von ihrem Leben in Flüchtlingslagern in Kenia und Uganda.

Denn das könnte unterschiedlicher nicht sein:
In Kenia müssen Geflüchtete in Lagern leben, können sich nicht frei bewegen oder arbeiten. In Uganda bekommen sie Land, auf dem sie ein Haus bauen und Landwirtschaft betreiben können. 

Erfahrungsbericht für die Johanniter

Im Rahmen des „Journalistenpreis Humanitäre Hilfe“ 2018 reiste Johanna Sagmeister Ende April unter anderem nach Kenia ins Flüchtlingslager Kakuma. Dort lernte sie neben der Johanniter-Arbeit im medizinischen Bereich vor allem den Willen vieler Menschen kennen, trotz aller Hürden voranzukommen und Träume zu verwirklichen. Elisabeth Yual ist eine von ihnen. 

Von Johanna Sagmeister, Juni 2018

Elisabeth Yual lebt im Nirgendwo. So heißt das Flüchtlingslager Kakuma im Norden Kenias übersetzt. Es ist eine durchaus treffende Beschreibung für seine Lage: Bis zur nächsten Stadt Lodwar sind es drei Autostunden. Dazwischen liegen Felsengebirge und Wüste.

Kakuma bedeutet für die 18-jährige Elisabeth aber auch Zuhause. Hier ist sie groß geworden, zur Schule gegangen, Mutter geworden. Alle ihre Freunde leben hier, das Camp ist voller Erinnerungen. Dennoch will Elisabeth weg. Wohin genau, kann sie nicht sagen. Hauptsache vom Nirgendwo ins Irgendwo. Kakuma ist für Elisabeth gleichzeitig alles und nichts. Wie es ist, mit diesem Widerspruch aufzuwachsen, wird sie mir heute zeigen.

Eine eigene Welt im Nirgendwo

Wir machen einen Spaziergang durch ihr Viertel. Elisabeth und ihre zehn Monate alte Tochter wohnen mit Tante, Cousinen und Cousins in einer einfachen Lehmhütte im ältesten Bezirk des Lagers. Wind pfeift durch die endlos erscheinenden Reihen von Hütten. Sand, Plastikmüll und Äste wirbeln durch die Luft und sammeln sich in den tiefen Gräben der Straßen. Oft bleiben wir stehen, um Freunden oder Kioskbesitzern Hallo zu sagen.

 Elisabeth Nachbarn kommen von überallher. Sie sind Nuer, Dinka, Äthiopier und Burundi. Man kennt sich hier, ist füreinander da. „Wir leben friedlich zusammen“, sagt Elisabeth. Die kulturelle Vielfalt im Flüchtlingslager empfindet sie als großen Vorteil. Ihre beste Freundin Franziska kommt zum Beispiel aus dem Kongo. „Dank Freundschaften wie dieser, bin ich ein weltoffener Mensch geworden“, sagt sie.

An ihre Heimat Südsudan kann sich Elisabeth nur noch vage erinnern. Die Gedanken daran schmerzen. „Dort habe ich meine Eltern und Geschwister zum letzten Mal gesehen“, erzählt sie mit leiser Stimme. In der Fluchtnacht war sie bei ihrer Tante, ist mit deren Familie vor den Schüssen im Dorf geflohen. Ob sich ihre Eltern und Geschwister in Sicherheit bringen konnten, weiß Elisabeth nicht.

Der Perspektivlosigkeit und Langeweile entkommen

Mit vier Jahren kam Elisabeth also ins Nirgendwo. Alle Gassen und Viertel kenne sie immer noch nicht, erzählt sie. Zu groß ist das Camp, das sich auf rund 15 Quadratkilometern erstreckt. Vor 25 Jahren wurde es als provisorisches Lager errichtet. Mittlerweile gibt es einfache Märkte, Friseure, Copy-Shops, kleine Hotels – alles betrieben von Flüchtlingen. Die kenianische Regierung erlaubt ihnen das Arbeiten nur innerhalb des Camps.

Zahlenmäßig könnte Kakuma mit seinen rund 180.000 Einwohnern eine Großstadt sein. Doch eine Großstadt prägen autoverstopfte Straßen, Elektrizität und ein lebendiges wirtschaftliches und kulturelles Treiben. An all dem fehlt es hier in Kakuma. „Außer Schule und Haushalt gibt es nicht viel zu tun“, erzählt Elisabeth. „Der große Nachteil am Leben hier ist die Langeweile“.

Also verbrachte Elisabeth die viele freie Zeit mit den anderen Jugendlichen. Mit 16 ist es mit der Langeweile dann schlagartig vorbei, Elisabeth wird schwanger. Ihre Tochter bekommt sie pünktlich zum Schulabschluss. Ihr Freund, der ihr versprochen hatte, sie zu heiraten, hat sie da schon verlassen. Ihr Traum zu studieren droht zu platzen. „Wer würde einer alleinerziehenden Mutter schon ein Stipendium geben?“, fragt sie. Dabei hat sie einen kenianischen Schulabschluss, spricht sehr gutes Englisch.

Elisabeth kennt viele Mädchen, denen es so geht wie ihr. Schwangere Minderjährige werden von den Partnern verlassen und von ihren Familien verstoßen. Sie brechen die Schule ab und leben in noch ärmeren Verhältnissen als zuvor. Elisabeth konnte bei ihrer Tante bleiben und wird weiterhin von ihr unterstützt. Und sie gibt ihren Traum zu Studieren nicht auf.

„No Connection“

Seit drei Monaten besucht Elisabeth einen Computerkurs, um sich für einen der begehrten Jobs bei einer Hilfsorganisation zu qualifizieren. „Wenn bei der Jobbeschreibung steht, dass man Computerkenntnisse braucht, dann bewerbe ich mich“, sagt sie hoffnungsvoll. Vor drei Monaten hat Elisabeth zum ersten Mal einen Laptop aufgeklappt und das Zehn-Finger-System gelernt. Mittlerweile kennt sie die Programme Paint und Excel. Heute wird Elisabeth mit 18 Jahren zum ersten Mal im Internet surfen.

„Das World Wide Web ist ein riesiges Netzwerk aus Informationen“, erklärt sie mir, als sie den Browser öffnet. Auf der Google-Homepage angekommen, frage ich sie, nach was sie jetzt suchen möchte. Sie zögert. „Das wird uns der Lehrer gleich sagen.“ Jetzt wird mir klar: Wie soll jemand, der sein Leben lang eingegrenzt und unter Restriktionen aufwächst, auf Anhieb die unendlichen Weiten und Möglichkeiten des Internets begreifen? Als der Lehrer sagt, sie sollen einfach irgendetwas eintippen, überlegt Elisabeth kurz und schreibt „Movies“. Doch die Seite lädt nicht. „There is no Internet connection” steht auf dem Bildschirm. Selbst das Internet ist in Kakuma nicht grenzenlos.

Diesen Monat hatte der von Flüchtlingen betriebene Verein kein Geld, um den Internetanbieter zu bezahlen. Die Verbindung für die acht Teilnehmer kommt vom Handy des Kursleiters. Der Hot-Spot ist zu schwach, um alle vier Laptops gleichzeitig zu versorgen. Mir wäre da schon längst die Lust am Surfen vergangen. Elisabeth und die anderen Kursteilnehmer tippen immer wieder neue Suchbegriffe ein und warten geduldig, bis sich die Seite aufbaut. Eine schlechte Verbindung ist immerhin eine Verbindung.  

Zwei Wochen wird der Kurs noch gehen, dann bekommt Elisabeth ihr Zertifikat. Wird bis dahin keine passende Stelle bei einer Hilfsorganisation im Camp frei, wird ihr Leben wieder eintönig. „Zum Glück habe ich meine Tochter“, sagt Elisabeth. Sie gebe ihr Kraft, sagt sie, würde sie motivieren, alles dafür zu tun, um ihr eines Tages ein besseres Leben zu ermöglichen.

Kein Gefängnis, sondern Exil

Elisabeth hat mich so beeindruckt, weil sie trotz zahlreicher Einschränkungen so zuversichtlich bleibt. Sie lebt hier zwar in Sicherheit, kann dank der internationalen Hilfe überleben. Aber Kakuma ist auch Endstation im Nirgendwo. Die Ressourcen sind knapp, Bildungsmöglichkeiten, Arbeitsplätze und Freizeitaktivitäten sind stark eingeschränkt. Viele Flüchtlinge sind perspektivlos und sehen keine Verbesserung ihrer Situation – und das oft über Generationen. Ich kann verstehen, dass das frustriert und mutlos macht.

Elisabeth weiß, dass Bildung für sie so ziemlich der einzige Weg ist, dem Lager zu entkommen. Deshalb solle ihre Tochter erst heiraten, wenn sie ein Studium abgeschlossen habe, sagt sie bestimmt. Für Elisabeth ist Kakuma kein Gefängnis. Es ist ein Exil. „Wenn ich es nicht schaffen sollte, hier rauszukommen, dann zumindest meine Tochter“, sagt sie.

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